Theatertext: Mondstein-Sonate

Personen

I. Akt Ruhig, aber nicht zu sehr

II. Akt Lebhaft, dann feierlich


Klaus Trapp

Mondstein-Sonate

Quasi eine Komödie in 3 Akten

Personen:

Hannes ein Vagabund, ca. 50, groß, schon leicht ergraut, ziemlich ramponiert und etwas altmodisch,

Fritz sein Bruder, ein arrivierter Anwalt aus Bonn, 7 Jahre jünger und etwas kleiner als sein Bruder, schlank aber unsportlich,

Lisa Fritz’ Frau, Chefin einer kleinen Werbeagentur, Ende 30, sportlich, elegant und gepflegt,

Irmi ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft, 24, hübsch,

Vera die Bürgermeisterin, knapp 50, eine resolute Person.

Ort: Das Stück spielt in dem sehr kleinen und bis dahin völlig unbekannten Ort Mondstein in der Eifel nahe der belgischen Grenze.

Zeit: Der 1. und der 2. Akt spielen an einem Tag im Mai und zwar am frühen Vormittag und am Nachmittag, der 3. am 12. Dezember des gleichen Jahres, beginnend etwa gegen 9 Uhr. Wir befinden uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Bühnenbild: Man sieht einen einfachen, kleinen Wohnraum in einem sehr alten Haus. Auf der linken vorderen Seite befindet sich die Eingangstüre. Sie ist etwas zu niedrig für die heutigen Menschen. Ihr gegenüber ist ebenfalls eine niedrige Türe, zu der man über eine kleine Stiege mit zwei oder drei Stufen gelangt. Diese Türe führt in den oberen Teil des Häuschens. Auf der linken Seite der Rückwand befindet sich das einzige sichtbare Fenster des Raums. Es darf nicht zu klein sein. Darunter stehen ein Klavier und davor ein Klavierhocker. Auf der rechten Seite befindet sich eine Kochecke mit einer Spüle, einem kleinen Kühlschrank, einem Regal mit Geschirr, einer Herdplatte und einer Anrichte, auf der ein Brotkorb und eine altmodische Kaffeemaschine stehen. Im vorderen Teil neben der Stiege sind ein Stuhl und ein kleiner Tisch. Rechts neben der Eingangstüre ist ein Bücherregal, das bis unter die Decke reicht und voll gepackt ist mit alten Büchern. Auf einem der Regalböden steht ein altes Telefon. Der Raum wirkt anfangs sehr unordentlich und wird im Folgenden immer aufgeräumter.

I. Akt Ruhig, aber nicht zu sehr

I.1 Irmi und Hannes

Irmi schaut verwundert zum Fenster hinein und bemerkt die Kaffeemaschine. Leise: Was ist denn hier los?

Hannes kommt durch die rechte Türe und orientiert sich zur Kaffeemaschine. Er ist unrasiert und gut gelaunt und bemerkt Irmi nicht. Hm, dieser Duft, dieses Aroma. Onkel Edgar, wenn du wüsstest, was du verpasst.

Irmi schaut durch das Fenster in das Zimmer hinein. Der Raum liegt offenbar tiefer als die Außenwelt. He, Alter, was machst du hier? Wer bist du?

Hannes bemerkt Irmi und wendet sich ihr zu. Oh, mein hübsches Kind, das sind ja gleich zwei Fragen.

Irmi Ich bin nicht dein hübsches Kind.

Hannes Aber, aber, mein kluges Kind, du kannst doch riechen, was ich hier mache? Dieses Aroma, dieser Duft.

Irmi Willst du mich verarschen?

Hannes Aber nicht doch. Wer wird denn so grob sein. Komm herein und trinke mit mir eine Tasse von diesem köstlichen Gebräu und dann erzähle ich dir, wer ich bin. Und du erzählst mir, wer du bist, und was es Neues in diesem Dorf gibt. Na?

Irmi Der Kaffee riecht nicht schlecht.

Hannes Außerdem hat er sehr viel mit mir zu tun. Ich bin nämlich der Besitzer der Plantage, wo diese herrlichen Bohnen herkommen, was damit auch deine erste Frage beantwortet.

Irmi Was bist du? Plantagenbesitzer? Das soll ich glauben?

Hannes Wie du willst. Es entspricht in der Tat nicht mehr ganz dem aktuellen Stand. Ich musste meine Besitztümer bedauerlicherweise verkaufen. Ja, ja.Er nimmt aus dem Regal zwei Kaffeetassen und schaut hinein. Sogar sauber.Er schaut wieder zu Irmi. Mit hohen Verlusten.Er hält die Tassen hoch. Na, was ist?

Irmi schwingt sich durch das Fenster über das Klavier und den Klavierhocker ins Zimmer. I.O.

Hannes Bitte?

Irmi In Ordnung. Ich mag es nicht, wenn man okay sagt.

Hannes Okay, das kann ich verstehen.Er reicht ihr die Hand. Hannes.

Irmi Irmi, eigentlich Irmela, aber das finde ich blöd.

Hannes schenkt die Kaffeetassen voll. Milch? Zucker?Im Folgenden setzen sich beide. Dazu schiebt Hannes den Klavierhocker für Irmi an den Tisch.

Irmi Nix.

Hannes Glück gehabt, hätte auch gar nicht gewusst, ob es hier dergleichen gibt. Ich bin hier nur zu Besuch.

Irmi Ach, darauf wäre ich jetzt wirklich nicht gekommen.

Hannes Ha, ha, du hast mich wohl für einen Einbrecher gehalten. Stimmt 's?

Irmi Nein, für einen Penner.

Hannes lacht. Das ist gut, ha, ha, das ist wirklich gut. Ich, ein Penner. Dabei habe ich nicht einmal gut geschlafen. Was meinst du wohl, wo?

Irmi Du wirst es mir gleich verraten, Hannes.

Hannes In Onkel Edgars Feldbett. Das steht auf dem Dachboden.

Irmi Ah, ja, da steht so ein komisches Teil.

Hannes Es ist kein gewöhnliches Feldbett. Es soll einmal einem napoleonischen General gehört haben. Den Namen habe ich vergessen. Angeblich hat er darin ein Kind gezeugt. Olle Kamellen.

Irmi Hab ich auch von gehört. Und wer, sagtest du, hat dich eingeladen?

Hannes Onkel Edgar, wer denn sonst.

Irmi Aha, Onkel Edgar.

Hannes Ja, Edgar Hoffmann, steht am Türschild, seines Zeichens pensionierter Lehrer, Organist und ein begnadeter Musikpädagoge.

Irmi Ach, du hattest bei ihm Musikunterricht.

Hannes Nein, nein, das wäre selbst bei ihm völlig zwecklos gewesen. In dieser Hinsicht bin ich nach meinem Vater geraten. Nein, Onkel Edgar hatte eine Schwester, Martha, und das war meine Mutter. Ganz einfach.

Irmi Hm. Hab ich von gehört.

Hannes Sie liegt seit gut 15 Jahren auf dem Friedhof.Leise: Ich werde sie noch heute besuchen.

Irmi Und dieser, dein Onkel Edgar hat dich eingeladen.

Hannes Ganz recht. Zu seinem Geburtstag, sein Neunzigster. Wenn ich mich nicht fürchterlich irre, müsste er morgen sein. Es war an einem von diesen Eisheiligen. Pankratius, Servatius ..

Irmi Bonifatius. Also du erzählst ziemlich viel Müll, Hannes, aber ab und zu ist was Halbwahres dran. Der Geburtstag des begnadeten Opa Edgar ist tatsächlich übermorgen, nur den Neunzigsten hatten wir schon - letztes Jahr.

Hannes So ein Pech, ich hätte einen Sack Kaffeebohnen darauf gewettet. Du bist sicher?

Irmi Ja, ganz sicher. Ich arbeite nebenher im Standes- und Einwohnermeldeamt und im Archiv dieser Kommune. Ich habe seine Geburtsurkunde eingesehen. Es gab voriges Jahr eine große Geburtstagsparty, gestiftet von der Bürgermeisterin, privat. Sogar die Zeitung war da. Es war definitiv der Neunzigste.

Hannes Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich in den entscheidenden Momenten immer zu spät komme.

Irmi Da könnte was dran sein.

Hannes Nun, dann feiern wir eben seinen Einundneunzigsten. Das ist doch auch nicht übel.

Irmi Da wird er sich freuen, Hannes. Sag mal, du heißt wirklich Hannes und bist der Neffe von Opa Edgar?

Hannes Ha, Irmi, du bist ein sehr lustiges Kind, wie sollte ich denn sonst heißen? Hannes, so steht’s in meinem Ausweis, nicht Jo-hannes oder Hans, nein, Hannes und sonst nichts.

Irmi Ist ja hoch interessant. Zufällig habe ich vorgestern einen schnöseligen Neffen von Opa Edgar kennen gelernt, samt seiner Schnepfe.

Hannes Das ist wieder ganz einfach, mein hübsches Kind. Das muss mein kleiner Bruder Fritz gewesen sein, Onkel Edgar hat sonst keine Neffen außer uns beiden. Aber schnöselig ist er nicht. Nein, nein.

Irmi Auf seiner Visitenkarte stand nichts von Fritz, da stand Friedrich. Und klein war er auch nicht. Bist du sicher, wir meinen denselben?

Hannes Er heißt Fritz, wirklich nur Fritz. Vielleicht ist er doch etwas schnöselig geworden.

Irmi Und Doktor jur.

Hannes Ich hab’s gewusst. Aus ihm wird mal was.

Irmi Kann es sein, dass ihr euch schon länger nicht mehr gesehen habt, du und dein Bruder Fritz oder Friedrich? Keine Post? Nein? E-Mails? Nix?

Hannes Kluges Kind, sehr scharfsinnig. 25 Jahre.

Irmi Was?

Hannes Seit 25 Jahren haben wir keinerlei Kontakt.

Irmi Oh, das nenne ich echte Bruderliebe.

Hannes Das kannst du vermutlich nicht verstehen. Ich liebe meinen Bruder sehr.

Irmi Ach, da bin ich wahrscheinlich zu jung zu, wirst du mir jetzt sagen.

Hannes Na ja, in deinem Alter versteht man noch nicht viel vom Schicksal.

Irmi Hör zu, ich bin alt genug. Und weißt du, was ich glaube? Du warst die letzten 25 Jahre im Knast. Wegen der Verbreitung unglaublichen Unsinns.

Hannes Wie kannst du so etwas sagen, Irmi. Im Knast war ich übrigens genau drei Wochen und drei Stunden. Wegen Passvergehens. Auf Samoa. Ein falscher Stempel. Reine Notmaßnahme. Dabei sah er so echt aus. Ist auch schon 20 Jahre her. Aber es war nicht schlecht da unten.

Irmi Auf Samoa. Hätt’ ich mir ja denken können. Und dort war auch deine Kaffeeplantage, die du verkaufen musstest, mit Verlust.

Hannes Mit großem Verlust. Nein, um Himmels willen. Nicht auf Samoa. Die liegt in Südamerika.

Irmi Südamerika ist groß.

Hannes In Uruguay, um genau zu sein. Das ist relativ klein.

Irmi So, so, in Uruguay. Am Rio de La Plata.

Hannes Ah, ich sehe, du kennst dich aus.

Irmi Ich kann dir sagen, dass ich in meinem Leben schon viele Tassen Kaffee aus allen möglichen Ländern getrunken habe, aber noch keine einzige aus Uruguay.

Hannes Doch, Irmi, gerade eben. Soll ich dir die Zollpapiere zeigen?

Irmi Wahrscheinlich mit einem falschen Stempel. Ich verzichte in Anbetracht der Tatsache, dass der Kaffee wirklich gut ist.

Hannes Ist ja auch mein Produkt. Noch eine Tasse?

Irmi Nein, ich muss jetzt gehen, Hannes.

Hannes Schade, es hat mir gut getan, mit dir zu plaudern.

Irmi Das Amt ruft.Sie steht auf.

Hannes Halt, halt, das Wichtigste hätte ich ja beinahe vergessen. Du kennst doch Onkel Edgar recht gut, wie mir scheint.

Irmi Kann man so sagen. Schließlich wohne ich nebenan, und das seit 24 Jahren. Seit meiner Geburt.Mit trauriger Stimme: Er war immer wie ein Opa für mich.

Hannes Was hast Du, Irmi?

Irmi Ach Hannes, du bist ein herzloser Idiot.Sie setzt sich wieder.

Hannes Erst ein Penner, jetzt ein Idiot und dazu noch ein herzloser. Findest du nicht, dass du etwas übertreibst?

Irmi Hättest du nicht wenigstens eine Woche früher kommen können?

Hannes Für seinen Neunzigsten hätte das nicht gereicht. Ah, ich verstehe, ihr habt den armen, wehrlosen, alten Mann letzte Woche in ein Altersheim abgeschoben. Steckt mein Bruder dahinter?

Irmi Nein, er ist nicht im Altersheim.

Hannes Wo ist er dann, mach es doch nicht so spannend.

Irmi Die Straße runter bis zur Kirche, dahinter den ersten Weg rechts 300 Meter bis zum Waldrand.

Hannes Dann werde ich ihn gleich besuchen.Er steht auf. Aber was macht er da? Da oben war früher der Friedhof, wenn ich mich nicht irre.

Irmi mit leisem Schluchzen: Da ist er immer noch. Friedhöfe bewegen sich sehr selten.

Hannes schlägt sich an die Stirn: Ich bin tatsächlich ein Idiot.Er wirkt sichtlich betroffen. Wann ist es passiert?

Irmi Vor sechs Tagen. Vorgestern war die Beerdigung. Gib mir doch noch einen Schluck Kaffee, einen kleinen.

Hannes holt die Kanne, schenkt ihr ein und setzt sich wieder. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, ich könnte Onkel Edgar auf diese Weise verpassen.

Irmi Ich nehme das „herzlos“ zurück.

Hannes Schon gut.

Irmi Aber jetzt muss ich weg.Sie trinkt aus.

Hannes Eine Frage: Hat er nie von mir erzählt?

Irmi Nein, nie.

Hannes Und über Fritz?

Irmi Auch nicht über deinen Bruder, nein. Er hat den ganzen Tag immer nur über Musik geredet, und über Musiker, besonders über Bach und Beethoven, ganz wunderbar. Selten auch mal über Bruckner.

Hannes Ja, über den Buchstaben B ist er nicht hinausgekommen.

Irmi Manchmal hat er auch ein bisschen gesponnen. Muss wohl in der Familie liegen. Ich konnte ihm stundenlang zuhören. Er war es, der mich ermutigt hat, Gesang zu studieren.Sie steht auf und geht zur Türe. So, jetzt muss ich aber.

Hannes Vielleicht sehen wir uns ja noch. Ich weiß nicht, wie lange ich bleibe. Jetzt, wo Onkel Edgar tot ist, sicher nicht mehr lange. Aber auf einen Kaffee wird es reichen.

Irmi Gerne. Komisch, vielleicht ist meine Zeit hier auch gekommen. Ich habe vorgestern ein interessantes Angebot für das Häuschen nebenan bekommen. Hab’s von meinem Vater geerbt. Vielleicht verkaufe ich. Es ist übrigens von deinem Bruder.

Hannes Was?

Irmi Das Angebot. Na ja, es ist eigentlich eher eine Anfrage.In der Türe: Aber wir sehen uns bestimmt noch ... bei einem Kaffee aus Uruguay.Sie schaut noch einmal zurück: Oh, da kommt Besuch. Das ist die Frau oder Freundin von deinem Bruder.

Hannes Seine Schnepfe.

Irmi Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.Ab.

Hannes So, meine Schwägerin. Da bin ich gespannt.Er bleibt erwartungsvoll stehen.

I.2 Hannes und Lisa

Lisa kommt herein. Sie trägt ein sportliches Kostüm und hat eine Aktentasche in der Hand. Sie schaut sich in der Türe nach Irmi um. Lisa wirkt etwas hektisch. Ihr Ehering sollte gut sichtbar sein. Das war doch diese Kleine, na ...Erst jetzt entdeckt sie Hannes. Nanu. Wie sind Sie hier rein gekommen? Haben Sie was mit der ... Wie heißt sie noch? Das Nachbarskind ...

Hannes Nein, nein. Ich habe nicht. Sie heißt übrigens Irmi.

Lisa Wo ist mein Mann? Ist er noch nicht da?

Hannes Der einzige Mann in diesem Haus bin derzeit ich.

Lisa Dann muss er jeden Moment kommen. Was machen Sie hier?

Hannes Das wurde ich eben schon mal gefragt - und habe mit einer Einladung zu einem Kaffee geantwortet.Er bringt Irmis Tasse weg und macht Anstalten, eine neue zu holen.

Lisa Hören Sie mal, Sie sind hier nicht zu Hause. Wissen Sie überhaupt, wo Sie sich befinden?

Hannes Oh, bestens. Ich kenne diese Hütte sehr gut.

Lisa Falls Sie es noch nicht mitbekommen haben sollten, das ist mein Haus.

Hannes Oh, ich verstehe. Daher weht der Wind.

Lisa Es gehört meinem Mann und mir.

Hannes Na herzlichen Glückwunsch zu der Bruchbude.Leise: Armer Onkel Edgar.

Lisa Diese ... Hütte, wie Sie sagen, ist keine Bruchbude, sondern eine Goldgrube. Das werden Sie schon noch erfahren. Und zwar sehr bald.

Hannes nimmt eine Tasse aus dem Küchenregal und setzt sie ihr hin. Jetzt sehr bestimmt So, Elsa, jetzt setzt du dich hier hin und trinkst in Ruhe einen Kaffee und dann warten wir zusammen auf deinen Mann.

Lisa Elsa? Wie bitte?

Hannes Elsa, Fritz’ Frau.Er schenkt ihr und sich Kaffee ein.

Lisa Ich heiße nicht Elsa.

Hannes Du wirst dich sicher noch an eine Reise nach Holland erinnern, Elsa. Du weißt schon warum. - Und von wem hat Fritz das Geld dafür bekommen? Von mir. Meine letzten 800 Mark.

Lisa Sie sind völlig irre. Was ist das für eine Holland-Geschichte? Mein Mann heißt Friedrich.

Hannes Er hat mir hoch und heilig versprochen, dich zu heiraten, der Jura-Student Fritz Kollenbusch, geboren am 22. November, dem Geburtstag von Friedemann Bach.

Lisa Also gut, Friedrich oder Fritz, das ist doch egal.

Hannes Er sollte eigentlich Friedemann heißen, aber unser Vater hat auf dem Standesamt alles vermasselt.

Lisa Unser Vater? Es wird ja immer verrückter.

Hannes Ja, da staunst du nicht schlecht. Jetzt ist es heraus. Ich bin Hannes.

Lisa Wer?

Hannes Hannes, dein Schwager. Fritz’ Bruder. Wer denn sonst. Einmal muss es ja sein, dass wir uns kennen lernen.

Lisa Friedrich hat keinen Stiefbruder.

Hannes Bruder! Nicht Stief.

Lisa Unmöglich. Sie sind ein Betrüger.Leise: Wahrscheinlich ein Erbschleicher.

Hannes Soll ich dir von unseren Eltern erzählen? Von Martha, unserer Mutter, die so wunderbar Klavier spielen konnte. Du wirst sie ja noch kennen gelernt haben. - Und von unserem Vater, Leopold, genannt Poldi, der Hallodri.

Lisa Sein Vater ist früh gestorben. Friedrich war erst sieben.

Hannes Gestorben?Er lacht. Fritz, das Schlitzohr. Von wem hat er das? Ah, ich verstehe: Sein Vater und sein Bruder waren ihm ein bisschen zu peinlich. Ja, der gute Fritz war sieben und ich vierzehn. Aber unser Vater ist damals nicht gestorben. Er hat sich in die Büsche geschlagen - und zwar mit der Frau des Kantinenpächters und mit 30.000 Mark aus der Portokasse. Er wollte zu einem Tauchurlaub. Aber er ist nicht wieder aufgetaucht, zumindest nicht in seiner Heimat, wo Frau und zwei Söhne auf ihn warteten.

Lisa setzt sich. Ich nehme jetzt doch einen Kaffee. Ich habe Martha leider nicht mehr kennen gelernt. Als ich Friedrich traf, war sie bereits ein knappes Jahr tot. Das war vor 14 Jahren.

Hannes Vor 14 Jahren. Oh, entschuldige. Dann kannst du gar nicht Elsa sein - rein rechnerisch.Er schenkt ihr Kaffee ein, bringt die Kanne zurück und setzt sich gleichfalls.

Lisa Ich sagte es bereits mehrfach. Ich heiße Lisa. Friedrich war vor mir nicht verheiratet. Das wüsste ich doch.Sie trinkt.

Hannes Tut mir leid. Ich war felsenfest überzeugt, er hätte damals seine Elsa geheiratet. Ich habe sie ja nie kennen gelernt.

Lisa Er ist gut.

Hannes Wer?

Lisa Der Kaffee.

Hannes Meine Züchtung. Die letzten zehn Jahre habe ich mich mit Kaffee beschäftigt. - Er hat also nie von mir erzählt?

Lisa Ich kann es immer noch nicht ganz glauben.

Hannes Hier ist ein Foto von uns.Er greift in eine Hosen- oder Jackentasche. Es ist das letzte von uns beiden. Er muss ungefähr 18 gewesen sein und ich 25.

Lisa Das soll Friedrich sein?

Hannes mit sichtlichem Ärger: Und hier ist mein Reisepass.Greift wieder in die Tasche. Ah, der muss in meinem Gepäck sein.

Lisa Ich versteh nicht, warum sollte er mir seinen Bruder verschweigen?

Hannes Mit mir ist schlecht reüssieren, verehrte Schwägerin. Ich bin nichts, habe nichts, aus mir ist nichts geworden. Ich war weit weg. Warum sollte er dich mit der Existenz eines Taugenichts behelligen? Wo er doch schon genug Probleme mit seinem Vater hatte. Da konnte er den Bruder auch gleich weglassen. - Aber vielleicht sollte er uns das selber erklären. Wenn ich dich recht verstanden habe, wird er gleich kommen.

Lisa Er hat nie viel von seiner Familie erzählt. Auch von Onkel Edgar nicht. - Ja, Friedrich sollte eigentlich schon längst hier sein. Wir sind hier verabredet. Er wollte vorher noch zum Notar. Wegen der Erbschaft von Onkel Edgar.

Hannes sentimental: Dann werde ich ihn wieder sehen, meinen Bruder, endlich, nach 25 Jahren. Ein Vierteljahrhundert. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich darauf freue. Und wie mir scheint, ist ja was Anständiges aus ihm geworden. Ein bisschen habe ich ihn ja mit großgezogen.

Lisa Es ist fällt mir schwer zu glauben, dass er bei Ihnen was Nützliches gelernt haben sollte.

Hannes lacht: Nein, von Nützlichem habe ich auch nicht geredet. Aber wenn du erlaubst, Elsa, eh, entschuldige, Lisa natürlich, also wenn du gestattest, ziehe ich mich jetzt zurück und nehme ein Bad.

Lisa Hier gibt es kein Bad.

Hannes Doch, unterm Dach. Ein alter Kohlebadeofen. Ich habe ihn vorhin angeheizt. Das Wasser müsste jetzt heiß sein. Und ich habe seit 21 Tagen keine gefüllte Badewanne mehr gesehen.

Lisa Dann will ich Sie nicht aufhalten. Angenehmes Planschen, Herr Schwager.

Hannes geht zur rechten Türe. Wenn es dir nichts ausmacht, dann könntest du in der Zwischenzeit vielleicht ein paar Brötchen holen. Unten an der nächsten Straßenecke ist immer noch die Bäckerei Englisch. Ich hatte seit 25 Jahre keine Brötchen mehr. Bitte eins mit Mohn.

Lisa Wo bleibt er bloß.

Hannes Und wenn es geht, noch etwas Butter und Aufschnitt. Es ist nichts im Kühlschrank außer Malzbier. Und Zucker bitte nicht vergessen. Fritz nimmt immer viel Zucker im Kaffee.

Lisa Das weiß ich. Sonst noch was?

Hannes Ah, vielleicht doch lieber Marmelade statt Aufschnitt. Oder beides. Ach, das überlasse ich ganz dir.Ab.

Lisa Unglaublich. Ein Bruder. Und was für ein Flegel. Hat wahrscheinlich vom Tod von Onkel Edgar gehört. Könnte problematisch werden.

I.3 Lisa und Fritz

Fritz kommt in einem normalen Straßenanzug durch die linke Türe mit einem Aktenordner in der Hand. Er geht auf Lisa zu. Tut mir furchtbar leid, Mausi, es gab noch ein paar Komplikationen.Er umarmt sie. Wie war’s bei dir? Was sagt das Institut?

Lisa Vielleicht setzt du dich erst einmal.

Fritz Oh, hier gibt es Kaffee. Das ist gut.

Lisa Aber keinen Zucker.

Fritz Das ist schlecht. Du hattest Besuch. Wer?

Lisa Setz dich erst. Ich habe zwei Nachrichten. Eine gute und eine schlechte.

Fritz setzt sich. Erst die schlechte.

Lisa setzt sich auch. Nein, erst die gute. Sie ist zu gut. Sie ist verdammt gut.

Fritz Es ist wahr?

Lisa Ja. Es stimmt.

Fritz Nein.

Lisa Doch. Es ist wirklich wahr. Die Sensation ist perfekt.

Fritz Professor Schultes hat es bestätigt?

Lisa Ja, hat er.

Fritz Du hast sein Gutachten? Zeig her.

Lisa Nein. Aber er hat es mir in die Hand versprochen. Das Papier ist echt, hat er gesagt. Es gibt keinen Zweifel, hat er gesagt. Bis das schriftliche Gutachten fertig ist, dauert es zwei oder drei Tage.

Fritz Dann warten wir noch solange mit der Meldung.Er steht wieder auf.

Lisa Wir brauchen noch die Option auf das Nachbarhaus.Sie steht auch auf.

Fritz Ich werde die Bürgermeisterin anrufen.

Lisa Schon erledigt. Sie kommt am Nachmittag.

Fritz Aber du hast ihr nichts verraten, Mausi?

Lisa Ach was, mein Schatz. Wo denkst du hin.

Fritz Kannst du dir ‘s vorstellen?

Lisa Was? Dass hier bald die große Sause abgeht? Ich kann mir sehr viel vorstellen. Sonst wäre ich nicht in der Werbebranche.

Fritz Das meine ich nicht. Nein, ich kann immer noch nicht glauben, dass er hier geboren sein soll.

Lisa Ach so, Beethoven. Warum soll er denn nicht hier zur Welt gekommen sein? Jesus wurde in einem Stall geboren.

Fritz Und Beethoven in einer Bruchbude.

Lisa Und diese Bruchbude gehört uns.

Fritz Ja. Das heißt ...

Lisa Das heißt was?

Fritz Ich war ja gerade beim Notar. Es gab da noch ein Problem.

Lisa Sag bloß, es ist doch ein Testament aufgetaucht.

Fritz Nein, das nicht. Er hat kein Testament hinterlassen. Das ist sicher. Aber - es gibt noch einen anderen Erbberechtigten.

Lisa Und wer sollte das sein? Hat dein Onkel Edgar irgendwelche illegitimen Abkömmlinge?

Fritz Nein, das Problem liegt anders. Der besagte Erbberechtigte ist verschollen.

Lisa Ach so. Ich verstehe.

Fritz Ich glaube nicht. Der Verschollene muss erst gefunden werden. Oder für tot erklärt werden. Und das kann Jahre dauern. Bis dahin ruht das Erbe. Verstehst du jetzt?

Lisa Dann können wir Beethovens Geburtsurkunde auch gleich verbrennen.

Fritz Eben nicht. - Ich habe ein bisschen nachgeholfen. Ab und zu kann auch ich kreativ sein.

Lisa Bitte? Könntest du mir das etwas deutlicher erklären?

Fritz Es gibt ein Testament.Er deutet auf seine Tasche.

Lisa Du hast ...?

Fritz Ja, eine reine Notmaßnahme.

Lisa Willst Du etwa damit sagen ...

Fritz Es ist äußerst fair. Ich bekomme das Haus und der andere die umfangreiche Bibliothek. Und die Barschaft wird brüderlich geteilt. Sind immerhin 3.000 Euro.

Lisa Brüderlich geteilt?

Fritz Genau. Eine kleine Fußfalle habe ich noch eingebaut.

Lisa Und das wäre?

Fritz Das Erbe muss innerhalb eines halben Jahres nach dem Tode von Onkel Edgar angetreten werden.

Lisa Du bist verrückt. Das kannst du nicht machen.

Fritz Anderenfalls fällt der Teil an seine reizende angeheiratete Nichte Lisa.

Lisa Du bist völlig verrückt. Wenn das rauskommt …

Fritz Was willst du denn? Es kommt nicht raus. Es kann gar nicht entdeckt werden. Ich kann ganz gut die Schrift von anderen Leuten nachmachen. In der Schule waren meine Entschuldigungsbriefe sehr begehrt.

Lisa Wir wollen hier das neue Geburtshaus von Beethoven einrichten mit Beethoven-Woche, Beethoven-Festival und Beethoven-Pipapo. Und das ganze basiert auf einer sehr merkwürdigen Urkunde. Weißt du, was passiert, wenn herauskommt, dass die Initiatoren sich das Haus mit einem gefälschten Testament unter den Nagel gerissen haben?Zu sich: Sind denn heute hier alle verrückt?

Fritz Mausi, es ist unser völlig legitimes Erbe. Wir müssten sonst Jahre warten, könnten nichts unternehmen. Deiner Firma geht es ziemlich flau. Die Beethoven-Kampagne wäre die Rettung. Meiner Kanzlei steht das Wasser bis hier.Er deutet auf sein Kinn. Bis wir mit der Erbschaft durch sind, vergehen Jahre.

Lisa Was bekommt man für Urkundenfälschung? Gib das so genannte Testament her.

Fritz Das Original ist schon beim Notar.

Lisa Das Original, sagt du. Das nenne ich originell. Dann gibt’s nur noch eins: Augen zu und durch.

Fritz Es kann nichts schief gehen, Mausi. Es gibt nur einen einzigen, der überhaupt merken könnte, dass das Testament nicht - na ja - nicht so ganz echt ist.

Lisa Ach, und das wäre?

Fritz Der Verschollene. Und der ist lange weg. Seit 25 Jahren.

Lisa 25 Jahre, tatsächlich. Und um wen handelt es sich bei diesem ominösen Verschollenen?

Fritz Okay, Mausi, ich hätte es dir früher sagen sollen.

Lisa Was?

Fritz Ich habe nie viel über meine Familie geredet, außer über Mutti.

Lisa Und auch das sehr selten.

Fritz Ich habe - oder hatte - das weiß ich gar nicht so genau, - einen Bruder.

Lisa Einen Bruder?

Fritz Ja, einen Bruder. Einen verschollenen Bruder. Johannes.

Lisa Ah ja, ein Bruder. Vielleicht noch ein oder zwei Schwestern? Oder wie wäre es mit einer Ex-Verlobten samt einem kleinen Bastard? Nein?

Fritz Was soll das denn? Man kann doch schließlich einen Bruder haben. Das ist nichts Ungewöhnliches. Es gibt viele Menschen … Er war deutlich älter. Sieben Jahre.

Lisa Hatte er die Krätze? War er im Knast?

Fritz Nicht dass ich wüsste.

Lisa Warum hast du dann deinen Bruder verschwiegen?

Fritz Ich weiß es selber nicht. Er ist verschollen. Und du hättest ihn bestimmt nicht gemocht.

Lisa Da kannst du durchaus Recht haben, aber das ist noch lange kein Grund, einen Bruder zu unterschlagen.

Fritz Was soll ich denn mit einem Bruder, der nicht da ist. Falls er jemals zurückkommen sollte, wird er mit weit geöffneter Hand dastehen. Jede Wette.

Lisa Kriegt er noch Geld von dir?

Fritz Nein. Ach was. Er hatte nie welches. - Und selbst wenn er jetzt zurückkäme, er würde ein bisschen Geld bekommen und viele schöne alte Bücher. Er hat immer gerne gelesen. Das Klavier kann er auch haben.

Lisa Friedrich, ich muss mich doch sehr wundern.

Fritz Halt, da fällt mir etwas ein.

Lisa Was?

Fritz setzt sich. Schenk mir doch einen Kaffee ein. Ich muss noch Zucker in der Tasche haben.Er kramt in einer Tasche seines Jacketts und holt ein Zuckertütchen hervor.

Lisa Dann können wir auch gleich zur schlechten Nachricht übergehen.Sie schenkt ein.

Fritz Halt, noch nicht. Der Kaffee riecht so gut. Wunderbar. Wo ist er her?

Lisa Wer?

Fritz Der Kaffee. Jetzt weiß ich, was mich die ganze Zeit irritiert hat. Es war dieser Duft in meiner Nase.Er trinkt. Der schmeckt. - Du hast mir immer noch nicht gesagt, wer hier war.

Lisa Und noch hier ist.

Fritz Wo?

Lisa Oben unterm Dach. Das ist die schlechte Nachricht. Der Verschollene ist nicht mehr verschollen.

Fritz He?

Lisa Er ist in die Zivilisation zurückgekehrt und nimmt gerade ein Bad.

Fritz Bitte was?

Lisa Ein Bad.

Fritz Das meine ich nicht. Von welchem Verschollenen redest du?

Lisa Von deinem Bruder.

Fritz Von meinem Bruder?

Lisa Er ist entschollen, sozusagen.

Fritz Du hast meinen Bruder gesehen?

Lisa Ich hatte das seltsame Vergnügen. Kurz bevor du kamst.

Fritz Er soll hier sein?

Lisa Ja, er nimmt ein Bad.

Fritz Hier gibt es kein Bad.

Lisa Das habe ich auch gedacht.

Fritz Unmöglich.

I.4 Lisa, Fritz und Hannes

Hannes kommt zur rechten Türe herein. Er ist ziemlich nass gespritzt. Laut: Dieses Scheiß-Bad ....Er erkennt seinen Bruder. Fritz, meine Güte, Fritz. Du bist es wirklich.Er läuft mit weit geöffneten Armen auf ihn zu.

Fritz ist äußerst erstaunt. Er weiß offensichtlich nicht, ob er sich freuen oder ärgern soll. Hannes, altes Haus.Er steht auf.

Hannes Da staunst du, was?

Fritz Allerdings.

Hannes Lass dich umarmen, mein Bruderherz.Er nimmt ihn in die Arme.

Fritz Welche Überraschung.

Hannes Lass dich anschauen. Nein, du hast dich überhaupt nicht verändert.

Fritz Das kann man von dir nicht sagen, Hannes. Ich weiß nicht, ob ich dich wieder erkannt hätte. Nach so vielen Jahren.

Hannes 25, meine Lieber. Ein Vierteljahrhundert.

Fritz Das ist Lisa.

Hannes Deine reizende Frau habe ich schon kennen gelernt.

Fritz Ja, richtig. Mensch Hannes.Er deutet auf die Wasserflecke auf Hannes Kleidung. Was ist das?

Hannes Oh, ein Malheur mit dem Badeofen.

Fritz Badeofen?

Hannes Ja, in der kleinen Kammer unterm Dach. Der Kohleofen. Der Kupfermantel ist geplatzt, tja, und das kochendheiße Wasser schoss haarscharf an mir vorbei. War wohl etwas zu heiß. Schwamm drüber.

Lisa Ach, der komische Kessel auf dem Dachboden, das war ein Badeofen. Da wäre ich nie draufgekommen.

Fritz Wir haben uns hier noch gar nicht richtig umgesehen.

Lisa Wir waren ewig nicht hier, das heißt, ich noch nie. Ich weiß nicht, ob Sie es wissen. Wir wohnen in Bonn.

Hannes Und ihr seid ja erst 14 Jahre verheiratet und bis hier her ist es ja so furchtbar weit, mindestens 80 Kilometer, wenn nicht sogar 90.

Fritz Hannes, hör auf. Wie lange hast du Onkel Edgar nicht mehr besucht?

Hannes Ich war auch ein bisschen weiter weg. Zwischen 12 und 15 Tausend Meilen.

Fritz Und warum hast du dich nie gemeldet?

Hannes Ich habe Postkarten geschickt. Jedes Jahr. Fast.

Fritz Ein mickriges Lebenszeichen. Hannes, warum bist fort?

Hannes Das ist eine komplizierte Geschichte.

Fritz Die erzählst du mir heute Abend.

Lisa Heute Abend sind wir in der Galerie Hawliczeck-Eisler.

Fritz Ach, ja, hätte ich glatt vergessen. Die bildenden Künste. Dann ein andermal. Hannes, entschuldige mich, ich habe einen Termin. Bleibst du erst einmal hier?

Hannes Weiß nicht. Jetzt, wo Onkel Edgar tot ist, werde ich wohl nicht lange bleiben. Das Häuschen gehört ja jetzt euch, wenn ich das richtig verstanden habe.

Fritz Also von uns aus kannst du natürlich erst einmal hier bleiben. Das heißt, nicht zu lange. Wir haben schon etwas mit dem Häuschen vor.

Hannes Hab’ ich mir irgendwie gedacht.

Fritz Wir werden da eine Lösung finden. Übrigens hat Onkel Edgar dir seine ganzen Bücher und Noten vermacht.

Lisa Und sein Klavier. Friedrich, ich denke, dein Bruder könnte doch hier bleiben. Ich habe da so eine Idee …

Fritz Aber du weißt doch. Wir wollen ...

Lisa Ja, natürlich, und dein Bruder wird uns dabei helfen.

Hannes Oh, ich bin zu jeder brüderlichen Schandtat bereit.

Lisa zu Fritz: Ist dir nicht die Ähnlichkeit aufgefallen?

Fritz Was? Welche Ähnlichkeit?

Lisa Als dein Bruder in der Türe stand.Zu Hannes: Könnten Sie sich vielleicht noch mal in die Türe stellen?

Hannes Nur wenn du das dämliche Sie weglässt, liebe Schwägerin.

Lisa In Ordnung.

Hannes stellt sich in die Türe. So etwa?

Lisa Ja, das ist gut.Zu Fritz: Na? Er sieht doch genau so aus wie ...

Fritz Wer? Keine Ahnung.

Lisa Sieht das hier denn keiner?Sie geht auf ihn zu. Die Haare ein bisschen wuschiger, der Gesichtsausdruck etwas grimmiger; man müsste ihn schminken und rasieren. Na?

Fritz Sag’s mir.

Lisa Wie - Ludwig - van - ..

Fritz erstaunt Beethoven!

Hannes Oh, welche Ehre.

Fritz Hm, wenn ich mir ihn so anschaue. Du meinst ...

Lisa Er wäre unser idealer Beethoven.

Hannes Oh, Kinder, wie kommt ihr denn gerade auf den?Er verlässt seine Türposition. Wisst ihr, dass Beethoven zu diesem Haus in einer gewissen Beziehung steht?

Lisa So?

Hannes Leider nur in Onkel Edgars Fantasie, muss man dazusagen.

Fritz Ach.

Hannes Er war nämlich davon überzeugt ... Aber das ist so abwegig.

Fritz Erzähl’ doch.

Hannes Ihr wollt wirklich wissen ...

Lisa Mach’s nicht so spannend, Schwager.

Hannes Man weiß zwar von Beethoven, wann und wo er getauft wurde, …

Fritz Ja, ja, mein neunmalkluger Bruder: am 17. Dezember 1770.

Lisa Zu St. Remigius in Bonn.

Hannes Alle Achtung. Ich sehe, ihr seid echte Bonner. Und dann wisst ihr auch, dass man nicht weiß, wann und wo er geboren wurde.

Lisa Das ist der aktuelle Stand der Forschung.

Fritz Bis heute.

Hannes So, und jetzt kommen wir zu diesem Haus. Es gehörte damals, um 1770, einem windigen Bürschchen. Er könnte ein Vorfahre von Onkel Edgar sein. Also dieser Knabe hat hier in Mondstein nach Erzen gesucht. Es war ihm irgendwie gelungen, dem Kurfürst in Bonn ein ertragreiches Unternehmen vorzugaukeln. Und der hat sich tatsächlich für die Erschließung dieser obskuren Mine eine hübsche Summe abluchsen lassen.

Lisa ironisch: Wirklich sehr interessant.

Hannes Natürlich hat er hier nur taubes Gestein gefunden. Aber er hatte etwas Geld. Zumindest zeitweilig. Und er hatte einen Bruder, eine sehr musikalischen Bruder, der in der Bonner Hofkapelle angestellt war, und der mit einem gewissen Johann van Beethoven, einem Sänger in dieser Hofkapelle, befreundet war. Die beiden waren, präziser gesagt, Saufkumpanen.

Fritz Woher weißt du das alles?

Hannes Weil Onkel Edgar es mir erzählt hat. Wenn du ihn auch ab und zu mal besucht hättest, würdest du die Geschichte kennen.

Fritz Komm Hannes. Und wie oft warst du hier?

Hannes Immer in den Sommerferien, mindestens eine Woche. Und immer am zweiten Weihnachtstag.

Fritz Weißt du, wie lange man damals für die 30 Kilometer von Aachen hierher brauchte? Vier Stunden, mit zwei mal umsteigen. Und du hattest ein Moped.

Lisa Erzähl doch bitte weiter.

Hannes Wo war ich?

Lisa Bei den Suffköppen.

Hannes Nun ja, also, der eine der beiden Saufkumpanen besuchte hin und wieder hier in diesem Kaff seinen Bruder, vermutlich um ihn anzupumpen, und der gute Johann von Beethoven begleitete ihn bisweilen. Einmal soll er auch seine hochschwangere Frau mitgenommen haben. Das war im Dezember 1770, am 12., um genau zu sein.

Lisa Und was heißt das?

Hannes Tja, jetzt kommt’s. Just an jenem Tage wurde hier in diesem Haus der kleine Ludwig geboren. Das heißt, wir befinden uns im Geburtshaus des großen Komponisten. Tags darauf habe man den Knaben in der hiesigen Amtstube gemeldet. Wenige Tage später sind Mutter und Kind nach Bonn gereist, wo der Bub getauft wurde. Soweit Onkel Edgars kleine Geschichte.

Lisa Aha. Wir sind also hier im eigentlichen Beethovenhaus.

Hannes Leider nein. Die Geschichte hat einen Haken. Sie ist nicht wahr. Quasi reine Fantasie. Gut möglich, dass der alte Beethoven mal hier war. Ich hatte Onkel Edgar vorgeschlagen, eine Gedenktafel anzubringen mit der Aufschrift: Hier hat Beethovens Vater vermutlich übernachtet. Spaß beiseite. Aber Beethovens Mutter. Warum sollte sie mitgekommen sein?

Fritz Vielleicht wollte man so auf die besondere Lage hinweisen.

Lisa Ein subtiler Appell.

Hannes Das ist reine Spekulation. Nein, es gibt dafür keinerlei Beweise.

Fritz Doch. Gibt es.

Hannes lacht laut: Ha, ha. Willst du mich verarschen?

Fritz Nein, es gibt einen Beweis. Genau wie du gesagt hast: Am nächsten Tag hat man das Kind beim Amtsvorsteher von Mondstein gemeldet. Und das wurde nach ordentlicher deutscher Art schriftlich festgehalten.

Hannes Lieber Fritz, die ältesten erhaltenen Register stammen aus der so genannten Franzosenzeit, angelegt 1806.

Fritz Irrtum. Wir haben ein älteres Dokument gefunden. Es wurde von einem Institut der Universität Bonn untersucht und für echt befunden. Es besteht kein Zweifel: Beethoven wurde hier geboren.

Hannes Das kann ich nicht glauben. Onkel Edgars Erzählungen sollten wahr sein?

Lisa Ob du’s glaubst oder nicht, ist mir schnurz egal. Das hier wird das neue Beethovenhaus.

Hannes Was, diese Bruchbude? Ah, ich verstehe jetzt. Daher die Goldgrube.

Lisa Friedrich, wir müssen. Wir erklären dir alles noch ganz ausführlich.

Fritz Oh, ja, wir müssten längst weg sein.

Lisa Wir sind am Nachmittag wieder da.Zu Fritz: Der Termin mit der Bürgermeisterin.

Fritz Ja, richtig. Hätte ich fast vergessen.

Lisa begibt sich zur Haustüre. Zu Fritz: Und er macht den Beethoven.

Hannes Wozu das?

Lisa Das macht sich gut.Zu Fritz: In Leipzig in dem Café neben dieser … Kirche lief einer rum als ... na, sag schon ...

Fritz Neben der Thomas-Kirche: Bach!

Lisa Genau. Sozusagen als folkloristisches Accessoire.

Hannes Ich bin völlig unmusikalisch.

Fritz folgt ihr zur Türe: Tatatataaa. Das bekommst du noch hin. Außerdem brauchst du dich nur taub zu stellen. Und das kannst du gut.Er und Lisa ab.

Hannes Ich als Beethoven, so ein Unsinn. Da könnten sie genauso gut eine Vogelscheuche aufstellen. Folkloristisches Accessoire. Wahrscheinlich meint sie Kellner.Er räumt die Tassen von Lisa und Fritz weg und setzt sich an den Tisch. Während dessen summt er den Walkürenritt.

I.5 Hannes und Irmi

Irmi schaut durchs Fenster herein. He, Hannes! Diesmal komm’ ich zur Türe rein.Sie verschwindet kurz und kommt dann zur Haustüre hinein. Sie hält eine Tüte in der Hand. Frische Brötchen gefällig?

Hannes Wunderbar, mein hübsches Kind. Es ist auch noch etwas Kaffee in der Kanne. Weißt du, was ich in Übersee am meisten vermisst habe?

Irmi Bier. Ein kühles Helles.

Hannes Nein, Brötchen. Und davon besonders- er schaut in die Tüte - Mohnbrötchen. Du bist ein Engel.

Irmi Frische Brötchen wird es hier nicht mehr lange geben. Der Bäcker macht Ende des Monats dicht.

Hannes Dann bin ich längst über alle Berge.Er entdeckt in der Tüte eine Portion Butter und etwas Marmelade und holt beides heraus. Ausgezeichnet, Butter, Marmelade, ah, Aprikose.Im Folgenden schmiert sich Hannes Brötchen und lässt sie sich schmecken.

Irmi Ich hau’ auch ab. Ich hab’ verkauft.

Hannes Was? Was hast du gemacht?

Irmi Ich war gar nicht auf dem Amt. Ich war beim Notar. Wegen des Verkaufs. Das Angebot war sehr gut. Hat mir einer bestätigt, der es wissen muss.

Hannes Du hast allen Ernstes das Nachbarhaus an meinen Bruder verkauft?

Irmi Ja, gerade eben habe ich den Vertrag unterschrieben.

Hannes Ich werde den Verdacht nicht los, mein Bruder hat irgendeine Schweinerei damit vor.

Irmi Versteh’ ich nicht.

Hannes Du hast ihn doch gut gekannt, den Onkel Edgar?

Irmi Und ob! 24 Jahre gute Nachbarn. Ich durfte ihn Opa Edgar nennen.

Hannes Und er hat nie etwas über Beethoven und dieses Haus erzählt?

Irmi Er liebte Beethoven, besonders die Klaviersonaten. Was sollte er mit der Hütte zu tun haben?

Hannes Er wurde hier geboren.

Irmi Opa Edgar?

Hannes Nein, Beethoven.

Irmi Bitte was? Beethoven? Hier in dieser Bruchbude? Es soll nicht in Bonn ...

Hannes Da ist er nachweislich getauft worden.

Irmi Ja, ja, ich weiß. Aber, dass er hier ...

Hannes Genau, in Mondstein.

Irmi Davon hat Opa Edgar ganz bestimmt nichts erzählt.

Hannes Dann hat er Wort gehalten.

Irmi He? Aber mal ehrlich: Glaubst du etwa, ich hätte mein Häuschen verkauft, wenn es das Nachbarhaus von Beethovens Geburtsstätte wäre?

Hannes Hm.

Irmi Also was ist jetzt mit der Geschichte von Beethovens Geburtshaus?

Hannes Könnte etwas dauern. Willst du sie hören?

Irmi Na klar doch. Scheint was Lustiges zu sein.

Hannes Ich weiß nicht recht. Wie ich schon sagte, war Onkel Edgar davon überzeugt, dass Beethoven hier geboren wurde. Schlimmer noch, er glaubte sogar, dass es hier noch Nachfahren von Beethoven geben müsse.

Irmi Oh!

Hannes Illegitime natürlich.

Irmi Ach ja. Hier in Mondstein.

Hannes Aber das ist eigentlich eine andere Geschichte. Er ist mir damals ziemlich auf die Nerven gegangen mit seiner Beethoven-Manie. Das hat mich zu einem kleinen Streich veranlasst, worauf er geschworen hat, nie wieder diese Beethoven-Märchen zu erzählen. Und wie ich jetzt höre, hat er sich daran gehalten.

Irmi Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Was für ein Streich?

Hannes Eine kleine Fälschung: eine Geburtsurkunde für Ludwig van Beethoven.

Irmi Aber das hat er doch wohl sofort durchschaut.

Hannes Nicht sogleich. Ohne mich loben zu wollen, es war eine brillante Fälschung. Es war auch gar nicht die originale Geburtsurkunde, sondern eine sehr alte, unverdächtige Abschrift der Geburturkunde. Aus der Franzosenzeit.

Irmi So um 1805, 1810

Hannes Ganz recht. Die Idee dazu kam mir im Französisch-Unterricht. Bei Fräulein Reinhold.Nachdenklich: Ja, ja, Fräulein Karola Reinhold. Französisch und Geschichte. Die ganze Klasse schwärmte für sie. Wir waren Teenager. Sie hatte lange, dunkle Haare und eine wunderbare Stimme. Ach, ja.Pause. Irmi stößt ihn an. Wo war ich stehen geblieben?

Irmi Bei deiner Lehrerin, Frau Reinhold.

Hannes Fräulein Rheingold, wie sie von einigen genannt wurde, war pädagogisch sehr modern. Sie praktizierte schon damals fächerübergreifenden Unterricht. Du weißt vielleicht, in der Franzosenzeit war diese Gegend hier ...

Irmi ... französisch. Ja, ja.

Hannes Und die Amtssprache ...

Irmi .. war französisch.

Hannes Genau. Alle amtlichen Dokumente waren ..

Irmi ... auf französisch.

Hannes Die Gegend gehörte zum Département de la Roer, Arrondissement communal d’Aix La Chapelle, Canton keine Ahnung mehr, Mairie ...

Irmi Pierre de lune

Hannes Kann sein. Auf jeden Fall haben wir damals verschiedene Urkundentexte in Französisch durchgenommen.

Irmi Ja, ja, fächerübergreifend. Französisch und Geschichte

Hannes Und Heimatkunde. Sie hatte uns die Fotokopie einer Geburtsurkunde, einer Acte de Naissance, von irgendwoher besorgt. Da ich damals ein besonders fleißiger Schüler war, durfte ich die Kopie mit nach Hause nehmen und studieren. Der Rest war sehr einfach - bis auf das Papier. Doch das habe ich hier auf dem Dachboden gefunden. Zumindest schien es mir geeignet zu sein. Ein kleiner Packen vergilbtes, altes, leeres Papier. Und dann gab es auf einmal die Abschrift einer Geburtsurkunde eines gewissen Louis van Beethoven, né le douzième jour de mois de décembre à onze heures devant midi, fils de Jean van Beethoven und so weiter und so weiter. Alle Vornamen waren damals französisiert.

Irmi Ich weiß. Am 12. Dezember also.

Hannes Ich habe ihn um elf Uhr auf die Welt kommen lassen. Eine Reverenz an den rheinischen Frohsinn.

Irmi Und wie hast du es Opa Edgar präsentiert? Per Einschreiben?

Hannes Das war kein Problem. Bei meinen Besuchen durfte ich oben auf dem Dachboden herumstöbern, was ich auch gerne gemacht habe. Es gab dort jede Menge alte Bücher und vor allem Noten, Noten. Sind übrigens noch alle da, wie mir scheint. Einmal habe ich dann so getan, als hätte ich das ominöse Dokument zwischen einem Stapel alter Notenblätter gefunden. Ich hatte mir dazu ein Orgelwerk von Buxtehude ausgesucht, ich glaube, es war eine Toccata. Den mochte er nicht sonderlich.

Irmi Und er hat es dir abgekauft?

Hannes Anfangs war er sehr skeptisch. Dann hat er das Blatt lange studiert. Und schließlich war er nicht mehr zu bremsen. Er wurde total euphorisch. Es war mir schon fast peinlich, ehrlich, und beinahe hätte ich es ihm gesagt. Aber dann muss er die Fälschung bemerkt haben. Als ich ihn das nächste mal besuchte, war er furchtbar sauer. So hatte ich ihn noch nie erlebt. „Hannes, merk dir das: Ich werde die Geschichte über Beethoven und dieses Haus nicht beweisen können, und darum werde ich darüber für immer schweigen. Und für dich werde ich nie wieder Beethoven spielen. Nie wieder! Hannes, merk dir das!“ Das waren seine Worte. Ich habe sie heute noch im Ohr. Mit meinem Scherz war ich zu weit gegangen.

Irmi Und wie hat es er herausbekommen?

Hannes Ich wollte ihn noch danach gefragt haben, aber ich war so beschämt.

Irmi Aber was soll das jetzt mit deinem Bruder zu tun haben?

Hannes Mein Bruder hat nun offenbar doch noch etwas gefunden, was Onkel Edgars These untermauert. Danach wurde Beethoven tatsächlich hier geboren. Sagt er.

Irmi Dann hättest Du etwas gefälscht, was in Wirklichkeit der Wahrheit entspricht? Hannes, ich verstehe die Geschichte immer noch nicht. Und warum sollte er hier geboren sein? Und was ist mit den illegitimen Nachfahren des Meisters?

Hannes Das habe ich ja ganz vergessen. Ich fange am besten von vorne am.

Irmi Kannst du mir das heute Nachmittag erzählen? Ich müsste nämlich so langsam auch mal an meine Arbeit denken.

Hannes Natürlich. Das Amt ruft, das Archiv, nicht wahr?

Irmi Und das Standes- und Einwohnermeldeamt. Ich komme wieder.

Hannes Das will ich hoffen.Irmi ab. Ah, diese Brötchen und diese Marmelade. Aprikose.Pause. Oh, mein Gott, wenn Fritz das Papier gefunden hat und glaubt, es ist echt? Wenn Onkel Edgar es doch nicht verbrannt hat?

I.6 Hannes und Vera

Vera erscheint am Fenster und klopft. Hallo?

Hannes sieht sich erschrocken um. Oh, guten Tag.

Vera Sind Sie Herr Kollenbusch?

Hannes Ja, ganz recht.

Vera ungläubig: Der Anwalt?

Hannes Nein, Anwalt bin ich nicht. Das ist mein Bruder Fritz. Ich bin Hannes. Aber kommen Sie doch herein.

Vera kommt durch die Türe; immer noch mit ungläubigem Erstaunen: Hannes Kollenbusch?

Hannes Genau.

Vera gibt ihm die Hand: Schubert.

Hannes Wie der Komponist.Leise: Was ist das für ein musikalisches Nest!

Vera Ich bin die Bürgermeisterin. Eigentlich habe ich erst am Nachmittag einen Termin mit Ihrem Bruder und seiner Frau, aber ich kam gerade hier vorbei.

Hannes Welche Ehre, die Bürgermeisterin.

Vera So ehrenvoll, dass kein anderer es werden wollte. Und natürlich ehrenamtlich.

Hannes Aber ein schmuckes Dorf.

Vera Das täuscht. Hier sagen sich Fuchs und Hase Gute Nacht. Die Böden geben nichts her. Als Erholungsgebiet ist es im Sommer zu kalt und im Winter zu warm. Zweimal am Tag kommt ein Bus vorbei, morgens um sechs und abends um sechs.

Hannes Ich bin gestern mit dem Abendbus gekommen.

Vera Nächsten Monat schließt die einzige Bäckerei. Wissen Sie, unsere Gemeinde ist so klein, dass man bei der letzten Gebietsreform offenbar vergessen hat, sie dem Nachbarstädtchen zuzuschlagen.

Hannes Vielleicht ändert sich schon in naher Zukunft die Bedeutung dieses Ortes.

Vera Was Sie nicht sagen. Ihr Bruder machte eine ähnliche Andeutung.

Hannes Leben Sie schon lange hier?

Vera Seit 25 Jahren. Warum interessiert Sie das?

Hannes Und genau so lange lebe ich draußen in der weiten Welt. Früher war ich oft bei meinem Onkel zu Besuch hier in diesem Haus. Also vor 25 Jahren.

Vera Da haben wir uns wohl knapp verpasst.

Hannes Ich dachte nämlich, ich kenne Sie aus dieser Zeit.

Vera Beabsichtigen Sie länger hier zu bleiben?

Hannes Kann sein. Mein Bruder hat mir ein kurioses Angebot unterbreitet. Aber ich weiß noch nicht, ob ich es annehme.

Vera Vergessen Sie nicht sich anzumelden, wenn Sie länger bleiben.

Hannes Ja, dann werde ich mich bei Fräulein Irmi melden.

Vera Fräulein Irmi?

Hannes Vom Standes- und Einwohnermeldeamt.

Vera Ach, Sie haben meine Tochter bereits kennen gelernt.

Hannes Ihre Tochter?

Vera Was dagegen?

Hannes Nein. Sie hat mir nur nicht erzählt, dass ihre Mutter die Bürgermeisterin ist.

Vera Warum hätte sie das tun sollen?

Hannes Sie haben recht. Oh, ich habe ganz vergessen, Ihnen etwas anzubieten. Kaffee?

Vera Danke, ich muss wieder fort.

Hannes Dann entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss mich um einen kaputten Badeofen kümmern.

Vera Haben Sie etwa das alte Monstrum unterm Dach in Betrieb genommen?

Hannes Genau. Und da gehe ich jetzt hin.Ab durch die rechte Türe.

Vera Hannes. Du hast dich kein bisschen verändert, du Schuft!Ab durch die linke Türe.

Vorhang.

II. Akt Lebhaft, dann feierlich

II.1 Fritz und Lisa

Lisa ins Mobiltelefon plappernd: Ja, genau. - Und den Beamer. - Nein, der kleine reicht. Aber die Leinwand nicht vergessen. - Das ist mir egal. - Nein, spätestens morgen früh. Am Freitag haben wir einen Termin in Düsseldorf. Und sag Bastian, er soll mal im Internet nach brauchbaren Beethoven-Zeichnungen suchen. - Für die erste Präsentation ist das egal. - Okay.Sie legt auf. Oh, diese Neue.

Fritz kommt herein. Alles klar, Mausi?

Lisa Der DSL-Anschluss kommt am Freitagvormittag.

Fritz Hier gibt’s DSL?

Lisa Hat mich auch gewundert. Könntest du sicherstellen, dass dein Bruder hier ist, wenn der Monteur kommt.

Fritz Ja, ich versuch ‘s. Er ist nicht ganz einfach, wie dir vielleicht aufgefallen ist.

Lisa Ab Montag kann ich Silke für das Projekt abstellen. Und später kommen noch Katja und Bastian dazu.Sich umschauend: Sind hier irgendwo Steckdosen?

Fritz Mist. Da drüben neben dem Klavier.

Lisa Dann muss die Kaffeemaschine dran glauben.Sie transportiert den Drucker vom Tisch auf die Anrichte. Dort stöpselt sie die Kaffeemaschine aus.

Fritz Das wird Hannes nicht gefallen.

Lisa pikiert: Was soll das denn? - In dem Karton im Auto sind zwei Steckerleisten.

Fritz den Kopf schüttelnd: Neben der Spüle. Frauen und Technik.Er setzt den Drucker auf dem Klavier ab.

Lisa Wie soll ich da mit dem Kabel drankommen?

Fritz Ist der nicht per Funk verbunden?

Lisa Nein, ist er nicht. Den, den du meinst, können wir nicht nehmen. Und der hier ist zu neu. Der Funk-Treiber ist noch nicht installiert.

Fritz Bekommst du den nicht im Internet?

Lisa Dazu müsste ich erst mal einen Anschluss haben. Und den gibt’s erst am Freitag. Und die Verbindung über das Handy ist zu langsam.

Fritz Ach so.

Lisa Ja, ja, mein Schatz. Frauen und Technik.

II.2 Fritz, Lisa und Vera

Vera kommt durch die offene Wohnungstüre. Sie klopft. Hallo! Frau Kollenbusch? Herr Kollenbusch? Schubert.Sie geht auf die beiden zu.

Lisa Entschuldigung. Wir sind noch nicht ganz da. Wenn Sie vielleicht in einer Viertelstunde ...

Fritz Aber, nein. Bleiben Sie bitte. Wenn Sie die Unordnung entschuldigen wollen. Mein Bruder hat sich hier zwischenzeitlich eingenistet, ohne dass wir davon wussten.

Vera Keine Ursache.

Fritz Sie kennen das Haus?

Vera Ich kenne in diesem Nest jedes Haus. Übrigens habe ich eine Zeit lang nebenan gewohnt. Das Haus gehört jetzt meiner Tochter, wenn sie es nicht inzwischen schon an Sie verkauft hat.

Fritz Sie kannten auch meinen Onkel Edgar?

Vera Ja, natürlich. Aber sollten wir nicht gleich zu Sache kommen? Sie wollen mich sicher wegen des soeben entdeckten Geburtshauses von Beethoven sprechen?

Lisa Sie wissen schon?

Vera Seit 20 Minuten steht das Telefon in meinem Büro nicht mehr still. Und wenn ich mein Handy nicht abgeschaltet hätte, würde das auch permanent klingeln.

Fritz Woher wissen Sie das?

Vera Der erste Anruf kam von einem Radiosender aus Bonn, es folgten zwei private Fernsehstationen, unser regionales Zentralorgan, der deutschsprachige belgische Rundfunk und zuletzt der WDR. Ich denke, in 20 bis 30 Minuten werden die ersten Fernsehteams hier sein.

Fritz Wie denn das? Wir haben doch noch gar nicht ...

Lisa Doch, ich hab’s über unseren Presseverteiler herausgegeben. Mit Sperrfrist bis 15 Uhr.

Fritz leise zu Lisa: Bist du wahnsinnig? Das Gutachten ist noch gar nicht ...

Vera Im Radio soll es in der nächsten Nachrichtensendung gemeldet werden. Sie hätten mich ruhig ein bisschen früher einweihen können. Ich konnte den Reportern lediglich ein paar Fakten über die Gemeinde erzählen, die sie bestimmt nicht hören wollten. Es war von einer Urkunde die Rede. Haben Sie die im Nachlass von Opa Edgar gefunden?

Fritz Allerdings.

Vera Hm. Da wäre ich vorsichtig. Unser Edgar war immer zu allerlei Scherzen aufgelegt.

Lisa Wir haben ein Gutachten. Das Dokument ist echt.

Vera Wissen Sie, solange es nicht irgendwelche obskuren Nazi-Tagebücher sind, die Sie gefunden haben. Dann kann es von mir aus auch eine Fälschung sein.

Fritz Ein Bonner Institut hat uns bereits bestätigt ..

Vera Ausgerechnet aus Bonn. Die Armen.- Aber mir soll’s recht sein. Ein bisschen Publicity kann diesem Nest wirklich nicht schaden.

Lisa Sehen Sie, das haben wir uns auch gedacht.

Vera lacht: Ja, ja. Daher weht der Wind. Was haben Sie sich denn so vorgestellt?

Fritz Nun, es wäre doch ein Jammer, wenn dieses bemerkenswerte Ereignis der Gemeinde keinen Nutzen brächte.

Vera Und den Entdeckern. Das soll kein Vorwurf sein. Aber schießen Sie endlich los mit Ihren Plänen.

Lisa Zunächst einmal geht es um dieses Haus. Es müsste als Beethovenhaus entsprechend umgerüstet werden.

Vera Es ist sehr alt und steht unter Denkmalschutz. Wie fast alles hier. Und was wollen Sie den Besuchern hier präsentieren?

Lisa Das Beethovenhaus selbst sollte in erster Linie der musikalischen Begegnung dienen. Für junge Künstler.

Fritz Und ältere. Und interessiertes Publikum.

Vera Aha.

Lisa Das Nachbarhaus dachten wir als Café oder Restaurant auszubauen.

Vera Ah, Eroica-Torte, Fidelio-Mousse.

Lisa Man könnte hier oder nebenan mit einer kleinen Konzertreihe beginnen, zunächst Kammermusik, die dann an anderer Stelle in größerem Rahmen vorgeführt wird, zum Beispiel ...

Vera Im Dorfgemeinschaftshaus.

Lisa Na, ja. Wir dachten eher an einen Beethoven-Dome.

Vera Ach. Interessant. Ein geeignetes Gelände ließe sich bestimmt finden für den - Beethoven-Dome. Die Verkehrserschließung dürfte nicht einfach werden.

Fritz Schließlich könnte man ein kleines Beethoven-Festival veranstalten. Über den Termin sind wir uns noch nicht einig. Sein Geburtstag liegt ja leider etwas ungünstig.

Vera So.

Lisa Der 12. Dezember, wie wir jetzt wissen.

Vera Ach, am gleichen Tag wie Frank Sinatra und meine Schwester Ellie.

Lisa Die Queen feiert ja auch bei besserem Wetter.

Fritz Ich finde, wir sollten uns an den Geburtstagstermin halten.

Vera Könnte man mit ’nem Weihnachtsmarkt kombinieren. Beethoven-Punsch, Elisenlebkuchen im Albumblatt.

Lisa Nun, das sind alles erst einmal Ideen, Ansätze. Das Konzept wird in den nächsten Tagen detailliert ausgearbeitet werden.

Vera Und was soll ich dabei?

Lisa Können wir mit Ihrer Unterstützung rechnen?

Vera Ah, diese Frage liebe ich. Wenn Sie mich privat fragen: warum nicht. Ist doch mal was anderes. Als Vertreterin dieser Gemeinde kann ich Ihnen nur sagen: Dieses Dorf hat keinen Cent in der Kasse. Wenn es um Geld geht, um Zuschüsse, muss ich Sie enttäuschen.

Lisa Das hatten wir fast erwartet. Wir dachten auch eher an - Bürgschaften.

Fritz Und an die ideelle Unterstützung durch die Gemeinde.

Vera Über letzteres lässt sich sicher reden. Stellen Sie mal Ihr Konzept zusammen und dann sehen wir weiter. Ich habe ganz gute Verbindungen ins Kultusministerium.

II.3 Fritz, Lisa, Vera und Hannes

Hannes kommt zur Wohnungstür herein. Was geht da draußen vor? Habt Ihr schon die Übertragungswagen gesehen?

Lisa Fernsehreporter?

Vera Hab ich’s nicht gesagt?

Fritz zu Lisa: Da solltest du dich blicken lassen.

Lisa Und du kommst mit.

Fritz zu Vera: Wenn Sie uns entschuldigen. Aber Sie werden sicher auch ein paar Worte sagen wollen.

Vera Zu Beethoven? Gehen Sie nur, das ist Ihre Geschichte. Ich komme nach.Lisa und Fritz ab.

II.4 Vera und Hannes

Hannes Es ist heraus? Amtlich?

Vera Allerdings. Beethovens Geburtshaus. Ich musste schallend ins Telefon lachen, als der erste Pressefuzzy damit ankam. Hätten Sie mich nicht warnen können, Herr Hannes?

Hannes Ich kann’s doch selber nicht glauben. Außerdem hatte ich große Zweifel. Aber wenn es jetzt amtlich ist ...

Vera Ja, irgend so ein Bonner Institut hat es bestätigt. Ach, die armen Bonner: Erst sind sie die Bundeshauptstadt los und jetzt sollen sie auch noch ihren größten Sohn verlieren. Und was mussten sie behalten? Die Telekom.

Hannes Tja, eine komische Sache. Beethoven. Wer hätte das gedacht. Aber jetzt darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten. Warten Sie. Ich werde rasch ...

Vera Bemühen Sie sich nicht. Ich werde auch gleich nach draußen gehen. Ein andermal. Sie bleiben nun doch länger, oder?

Hannes Es sieht so aus. Ich werde mich auch ordnungsgemäß anmelden.

Vera Mal ein Zugang in der Statistik. Sonst ziehen die Leute nur fort. Die jungen sowieso - über kurz oder lang. Selbst meine eigene Tochter. Kann ich es ihr verdenken?

Hannes Aber vielleicht ändert sich das jetzt ein bisschen.

Vera Glauben Sie? Selbst wenn sich jetzt ein Detail in Beethovens Biografie ändert, was bedeutet das? Ihn verbindet sonst nichts, aber auch gar nichts mit diesem Dorf.

Hannes Wissen Sie, wo Wellington geboren wurde?

Vera Der englische General? Keine Ahnung.

Hannes In Dublin, also in Irland. Und wissen Sie, was er gesagt hat, wenn man ihn auf seinen Geburtsort angesprochen hat?

Vera Nein.

Hannes Es ist ja auch nicht jeder, der in einem Stall geboren wurde, ein Pferd.

Vera Wohl wahr.

Hannes Und welche Bedeutung hat das für die Dubliner? Die Nelson-Säule, das Denkmal für den Admiral der napoleonischen Kriege, das haben sie in die Luft gejagt, das Wellington-Monument im Phoenix-Park, im Grunde auch ein Denkmal für das englische Militär, steht unangefochten dort. In unmittelbarer Nähe ist sogar der Sitz des irischen Präsidenten und noch ein bisschen weiter weg habe ich einmal in einer lauen Sommernacht im Schlafsack übernachtet.

Vera Ich werde auf der nächsten Ratssitzung vorschlagen, im Wald ein Beethoven-Monument zu errichten. Wir können schon mal anfangen zu sammeln. Vielleicht finden wir daneben auch ein nettes Plätzchen für Sie.

Hannes Wenn Sie mich dort besuchen kommen ...

Vera In einer lauen Sommernacht?Kopfschüttelnd: Herr Hannes, ganz sicher nicht.

Hannes Schade.

Vera Wissen Sie, in Bonn ist er aufgewachsen, das ist seine Heimat. Da gehört er hin. Was wollen wir mit Beethoven?

Hannes Aber die Leute wollen dorthin, wo er geboren wurde. So ein Ort hat eine magische Bedeutung.

Vera Ich bin mir nicht sicher, ob diese magische Anziehungskraft die richtigen Leute nach Mondstein führt.

Hannes Würden Sie mich zu den falschen zählen?

Vera Sie bleiben zwar hier, aber Sie sind nicht wegen Beethoven gekommen. Das ist ein Unterschied.

Hannes Vielleicht bleibe ich auch aus anderen Gründen.

Vera Ach, weil es Ihnen hier so gut gefällt?

Hannes Kann sein. Ich habe viele schöne Tage hier verbracht, besonders in den Sommerferien.

Vera Werden Sie nicht sentimental. Das nimmt Ihnen keiner ab.

Hannes Außerdem gibt es hier sehr nette Menschen.

Vera Hören Sie auf damit. Wen kennen Sie denn schon hier?

Hannes Zum Beispiel den Notar. Ich habe ihn vorhin zufällig wieder getroffen. Willi war zwei Jahre lang bei mir in der Klasse.

Vera Und dann sind Sie sitzen geblieben.

Hannes Nein, er.

Vera So? Und wen noch?

II.5 Vera, Hannes und Fritz

Fritz kommt durch die Türe. Oh, ich möchte nicht stören,- zur Bürgermeisterin - aber Ihr Typ wird verlangt.

Vera die Schulter zuckend: Was wollen die denn von mir?

Fritz Die Welt will etwas über dieses wunderbare Dorf erfahren.

Vera Das kann sie. Bei den Arbeitslosenzahlen liegen wir immerhin prozentual knapp unter Köln.Zu Fritz: Wissen Sie, dass wir vor zwei Jahren beinahe schon mal in die Schlagzeilen gekommen wären? Fünf Fernsehsender und sechs Rundfunkstationen waren bereits hier.

Hannes Das sind ja mehr als jetzt.

Fritz Kommt noch.

Vera Mondstein, so hatte jemand festgestellt, war damals die kleinste Gemeinde der Bundesrepublik. Nach Einwohnerzahlen. Es ging um eine Einladung der Bürgermeister der kleinsten Kommunen aus allen EU-Ländern. Irgendjemandem ist es gelungen, EU-Mittel für diesen Quatsch aufzutreiben. Wo sollte das Treffen stattfinden? Natürlich im kleinsten Land der EU, in Luxemburg. Drei Tage vor dem Treffen stellte sich heraus, dass ein Dorf in Thüringen zwei Einwohner weniger hatte. Selbstverständlich habe ich dem Kollegen den Vortritt gelassen. Leider wurden auch die schönen Berichte über Mondstein nicht mehr gesendet - bis auf eine langweilige Reportage im Radio.Ab.

II.6 Hannes und Fritz

Hannes Nette Person. Hast du endlich ein bisschen Zeit?

Fritz Nein, Hannes, ich muss gleich wieder weg.

Hannes Schade. Bist du gesund? Du siehst so blass aus.

Fritz Ja, bin ich. Nur etwas nervös. Kannst du mir - möglichst kurz - zwei Fragen beantworten?

Hannes Ich kann’s mir denken.

Fritz Warum bist du damals abgehauen?

Hannes Und warum bin ich zurückgekommen?

Fritz Ja, warum ausgerechnet jetzt. Aber erst zu deiner plötzlichen Abreise. - Genau wie Vater.

Hannes Das kannst du nicht vergleichen. Ich habe weder Frau noch Kinder zurückgelassen. - Okay, es war Scheiße. Ich habe mir später große Vorwürfe gemacht.

Fritz Ein bisschen spät.

Hannes Und außerdem ich habe mich gemeldet. Noch ein Unterschied.

Fritz Ja, ja, nach 3 Wochen. Eine Postkarte aus Malaga.

Hannes Was kann ich dafür, dass die Post so lahm ist.

Fritz „Bin in Spanien. Mir geht es gut.“

Hannes Und jedes Jahr an Mutters Geburtstag.

Fritz „Bin in Indien. Bin in Australien.“

Hannes Ich habe ihr einmal einen sehr langen Brief geschrieben und ihr alles zu erklären versucht.

Fritz Hannes, ich weiß von dem Brief nichts. Erklär ‘s mir jetzt.

Hannes Du hast dir doch keine Sorgen gemacht?

Fritz Was glaubst du wohl. Du warst mein großer Bruder, mein Vorbild. Da sollte ich mir keine Sorgen machen? Erst haut der Vater ab und dann Du.

Hannes Du warst 18. Du hattest diese Geschichte mit deiner Freundin, Elsa. Was ist aus ihr geworden?

Fritz Ich war fast 19. Komm, Hannes, keine Ausflüchte mehr.

Hannes Ich war es satt, diese Enge, diesen provinziellen Mief.

Fritz Deswegen läuft man nicht Hals über Kopf davon.

Hannes Ach, Fritz, da gab es diese junge Frau. Sie war so wunderbar ...

Fritz Du bist mit einer Tussi abgehauen - genau wie Vater?

Hannes Liebend gerne wäre ich mit ihr zusammen weg.

Fritz Du hast sie sitzen lassen? Womöglich schwanger?

Hannes Aber nein. Es war ganz anders. Sie war mit meinem besten Freund verlobt. Das war das Problem. Sie war bereits vergeben.

Fritz Oh, nein, nicht deswegen.

Hannes Doch. Du hättest sie kennen sollen. Ich habe nie wieder jemanden wie sie getroffen. Ich weiß, es klingt kitschig und blöd.

Fritz Nur weil du sie deinem besten Freund nicht wegnehmen wolltest, bist du auf und davon?

Hannes Ich hätte es anders lösen sollen.

Fritz Müssen, Hannes, müssen. Und jetzt? Warum bist du hier?

Hannes Ich weiß es nicht. Nenn’ es Heimweh. - Oder die Sehnsucht nach Mohnbrötchen.

Fritz Du bist alt, kaputt und ausgebrannt. Das ist es. - Ich muss weg. Wir reden später weiter.Geht Richtung Türe.

Hannes Fritz, warte: Warum hast du mich verleugnet?

Fritz Du meinst, gegenüber Lisa?

Hannes Ja. Lisa.

Fritz Oh, Hannes. Ich habe ihr nur gesagt, dass ich keine Familie mehr habe, was exakt der Wahrheit entsprach. Mehr nicht. Und heute würde ich es genauso tun.Ab.

Hannes Wahrscheinlich hätte ich es an deiner Stelle auch so gemacht.

II.7 Hannes und Irmi

Irmi schaut durch das Fenster herein. Gibt’s noch Kaffee?

Hannes Gut, dass du mich dran erinnerst. Ich mache rasch welchen.Er begibt sich zur Kaffeemaschine und setzt diese im Folgenden in Gang. Komm doch rein.

Irmi kommt durch die Türe. Hast du das mitbekommen?

Hannes Was?

Irmi Das Spektakel da draußen. Die Reporter, die Fernsehkameras. Echt eindrucksvoll.

Hannes Ach, das meinst du.

Irmi Und? Hast du auch schon ein Interview gegeben?

Hannes Wieso?

Irmi Weil du für den ganzen Zirkus verantwortlich bist.Sie holt aus einer Tasche ein zusammengefaltetes Stück Papier hervor und hält es in der Hand.

Hannes Ich? So ein Unsinn.

Irmi Oh, ich kann es dir sogar beweisen.

Hannes Bitte nicht. Ich musste heute schon genug ertragen.

Irmi Ich habe dir doch von dem Haus nebenan erzählt, das ich von meinem Vater geerbt habe.

Hannes Weißt du, Irmi, dass ich ihn gekannt habe?

Irmi Nein. Woher soll ich das wissen. Und woher weißt du, wer mein Vater war?

Hannes Ich war auf dem Friedhof am Grab meiner Mutter. Du hast mir doch erzählt, du warst heute Vormittag auch da. Und da sah ich das Grab von Alban Arnold Schubert - mit frischen Blumen und Kerzen.

Irmi Und da hast du dann gleich ein paar abgezweigt für deine Mutter.

Hannes Nein, ich habe mich bei Onkel Edgar bedient. Da waren mehr. Und außerdem sind sie Geschwister.

Irmi Oh, Hannes!

Hannes Hatte ich schon erwähnt, dass ich als Kind viele Tage in diesem Dorf verbracht habe?

Irmi Bei deinem Onkel Edgar.

Hannes Und meiner Oma. Sie wohnte zwei Häuser neben der Bäckerei. Fritz hat sie gar nicht mehr erlebt. Damals kannte hier jeder jeden.

Irmi Das ist heute noch genauso.

Hannes Und natürlich kannte ich deinen Vater, der ja direkt neben Onkel Edgar wohnte. Er muss zehn, zwölf Jahre älter gewesen sein als ich. Weißt du, woran ich mich am besten erinnern kann?

Irmi Nein. Kann ich jetzt weiter erzählen?

Hannes An seine großen Ohren. Und seine Nase. Ein prachtvoller Zinken. Er hat ihn mit großer Würde getragen, ja, ich möchte sogar sagen, mit Anmut.

Irmi Ich weiß, dass er nicht besonders schön war.

Hannes Das wollte ich gar nicht sagen. Wir mochten ihn alle sehr. Er hatte eine starke Ausstrahlung.

Irmi Ja. Danke.

Hannes Oh, Irmi, entschuldige. Ich habe dich unterbrochen.

Irmi Also gut. Das Haus meines Vaters. Es wurde 1827 gebaut, ist also jünger als dieses hier. Die Grundstücke gehörten früher zusammen. Du weißt ja, ich arbeite nebenher im Archiv. Da konnte ich mir alle historischen Unterlagen dazu ansehen und habe etwas entdeckt. Eigentlich ist es völlig banal.

Hannes Was, Irmi, hat das mit den Fernsehleuten da draußen zu tun und was mit mir?

Irmi Etwas Geduld bitte. Also damals war dies hier die Nummer 27. Das neue Haus nebenan hat, weil es ursprünglich zum gleichen Grundstück gehörte, die 27 B bekommen.

Hannes Sehr spannend.

Irmi Dann hat man allerdings bemerkt, dass dies nicht so ganz in die Reihenfolge in der Straße passte. Nach der 25 kam 27 B and dann 27.

Hannes Das darf es in Deutschland nicht geben.

Irmi Sehr richtig. Beide Häuser gehörten damals der gleichen Familie und sie waren - nach anfänglichem Zögern - bereit, der Umnummerierung der Häuser zuzustimmen. Seitdem hat dieses Haus die Nummer 27 B.

Hannes Und das Nachbarhaus hat die 27. Was für eine epochale Geschichte. Irmi, willst du mich langweilen?

Irmi Oh, es wird gleich spannend - besonders, wenn man die Hausnummer auf diesem Papier beachtet.Sie entfaltet das Blatt in ihrer Hand und reicht es Hannes. Das stammt doch wohl von dir, oder?

Hannes Oh, Gott. Was ist das? Wo hast du das her?

Irmi Das ist ein Fax. Ein Bonner Institut hat es an die Gemeinde Mondstein geschickt. Vorab zur Kenntnisnahme. Sie werden in Kürze persönlich nachforschen.

Hannes Ich verstehe nicht. Wie kommt ein Bonner Institut an diesen Text?

Irmi Ist das die besagte Urkunde - inspiriert durch den ergreifenden Unterricht von - Fräulein - Karoline - Reinhold?

Hannes Sie hieß Karola.Pause. Ich dachte, er hätte es verbrannt. Ist das etwa ...

Irmi Genau. Damit beweisen gerade dein Bruder und deine Schwägerin Beethovens frisch entdeckte Geburtsstätte.

Hannes Hast du’s schon jemandem erzählt?

Irmi Ich wollte mich mit dir beraten.

Hannes Das ist gut.

Irmi Eigentlich finde ich’s ja ganz lustig. Endlich ist hier mal was los. Na, ja, ausgerechnet jetzt, wo ich meine Zelte abbreche.Pause. Also ist das dein kleines Geschenk für Opa Edgar?

Hannes Woran hast du es erkannt?

Irmi liest: né le douzième jour de mois de décembre à onze heures devant midi. Elf Uhr, eine Reverenz ...

Hannes ... an den rheinischen Frohsinn.

Irmi Und weil es eine Fälschung ist.

Hannes Weshalb?

Irmi Die Hausnummer. Sieh sie dir an.

Hannes Vingt sept bis.

Irmi 27 B.

Hannes Ich erinnere mich. Beethoven sollte ja ausgerechnet in diesem Haus geboren sein. Deshalb habe ich den Hinweis eingeschmuggelt, dass der Vater des Neugeborenen zu Gast im Hause 27 B war.

Irmi Und was habe ich dir über die Hausnummer gerade erzählt?

Hannes Ich verstehe. Das hier war 27 und nebenan war 27 B. - Dann wurde er eben im Nachbarhaus geboren. In deinem Haus. - Und du hast es an meinen Bruder verscherbelt. Irmi, wie konntest du bloß?

Irmi Du hast nicht verstanden. Die 27 B gab es damals gar nicht. Nicht 1770 und nicht 1807, dem Zeitpunkt, von dem deine angeblich amtliche Abschrift der Geburtsurkunde stammen soll.

Hannes Oh, kein vingt sept bis. Und ich fand gerade diese ‚bis’ so toll. Tja, da haben wir ein Problem.

Irmi Aber ein lösbares.

Hannes Wie das?

Irmi Ziemlich einfach. Ich müsste ein paar Blätter aus dem Gemeinde-Archiv verschwinden lassen.

Hannes Irmi! Das ist doch Geschichtsfälschung!

Irmi deutet auf das Fax. Und was ist das?

Hannes Das war ein Scherz. Wann, sagtest du, kommen die Forscher aus Bonn?

Irmi Morgen gegen Mittag.

Hannes Bis dahin sollten wir nichts unternehmen. Aber ich muss unbedingt Fritz informieren.

Irmi Das würde ich nicht machen. Je weniger Bescheid wissen, umso besser.

Hannes Ich kann ihn doch nicht ins offene Messer laufen lassen.

Irmi Für ihn ist es sowieso zu spät. Wenn die Sache auffliegt, ist er allemal blamiert. Und du auch.

Hannes Stimmt.

Irmi Wie wär’s mit einem Kaffee?

Hannes Gute Idee.Er geht zur Kaffeemaschine, holt Tassen und schenkt ein. Schwarz, nicht wahr?

Irmi Sehr aufmerksam!

Hannes Irmi, was machen wir bloß?

Irmi Versuch’ an etwas anderes zu denken.

Hannes Genau. Weißt du nämlich, was mir nicht mehr aus dem Kopf will?

Irmi Erzähl’.

Hannes Wie ein so - du verzeihst den Ausdruck - so hässlicher Mensch wie Alban Arnold Schubert zu so einer hübschen Tochter kommt.

Irmi lacht laut auf. Hässlich war mein Vater nicht, nein. Er war nicht schön. Aber hässlich kann man nicht sagen.

Hannes Gut. Einigen wir uns auf ‚nicht schön’. Nur beantwortet das meine Frage nicht.

Irmi Wenn du’s genau wissen willst: Er war mein Stiefvater. Deshalb sehe ich ihm nicht ähnlich. Er hat mich als kleines Mädchen adoptiert.

Hannes Und dein richtiger Vater? Hast du ihn mal kennen gelernt?

Irmi Für mich gibt es nur diesen einen, richtigen Vater. Richtiger kann ein Vater gar nicht sein. Alles andere interessiert mich nicht. Er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Manchmal war er ein bisschen zu streng. Aber ich habe nie an seiner Liebe gezweifelt. Ich gehe sogar soweit zu sagen, es war ein außerordentlicher Glücksfall, dass ich so einen Vater hatte.

Hannes Das kann ich von meinem nicht behaupten.

Irmi Übrigens bin ich mit meiner Mutter auch sehr zufrieden.

Hannes Ja, eine sehr angenehme Person. Ich habe mich vorhin angeregt mit ihr unterhalten. Sie hat so etwas ...

Irmi Sie kann allerdings auch sehr nervig werden.

Hannes Tatsächlich. Das kann ich gar nicht glauben.

Ein Handy klingelt.

Irmi kramt aus einer Tasche ein Handy hervor und hält es ohne aufs Display zu schauen ans Ohr. Traub - Hallo MamaZu Hannes: Wenn man vom Teufel spricht. - Ach - Das Institut von Professor Schultes - Das ist ja ein Ding. - Diese Bonner. - Ja, ich sag’s gleich weiter. Tschöö.Legt auf und steckt das Handy weg.

Hannes Was ist los?

Irmi Du glaubst es nicht. Du hältst es nicht für möglich.

Hannes Was?

Irmi Meine Mutter hat gerade einen Anruf von ihrer Bonner Kollegin erhalten. Irgendein Radiosender hat die Meldung bereits vor einer Stunde gebracht. Daraufhin haben einige empörte Bonner Bürger das verantwortliche Institut gestürmt. Ein besonders erbostes Kerlchen schnappte sich das Original und verbrannte es kurzer Hand. Ende vom Lied: eine materialtechnische Prüfung des Dokuments ist nicht mehr möglich; insbesondere die Untersuchung der Tinte entfällt mangels Masse.

Hannes Das kann doch nicht wahr sein.

Irmi Doch, ist es. Übrigens hatte man das Papier der Urkunde bereits analysiert und festgestellt, dass es sehr alt war und durchaus aus der Zeit um 1800 stammen könnte. Weißt du auch, was das bedeutet?

Hannes Warte mal. Wenn man jetzt im Text keinen Fehler mehr findet, dann muss man das leider nicht mehr existente Dokument als echt ansehen.

Irmi Ganz recht. Und deswegen gehe ich jetzt ins Archiv und werde ein paar sehr alte Blätter verschwinden lassen.Sie trinkt den Kaffee aus, steht auf und geht zur Türe.

Hannes Da mach’ ich nicht mit, Irmi!

Irmi Dir bleibt gar nichts anderes übrig. Die Fälschung stammt schließlich von dir.

Hannes Aber nur wenn Fritz und Lisa es nie erfahren.

Irmi In Ordnung.

Hannes Ich meine damit die ganze Geschichte. Von Onkel Edgars Beethoven-Geschichten ...

Irmi Und von Fräulein Reinhold ... Keiner Menschenseele wird je etwas darüber zu Ohren kommen. Nicht einmal Vera.

Hannes Vera? Welche Vera?

Irmi Meine Mutter, wer denn sonst.

Hannes Deine Mutter heißt Vera?

Irmi Seit ihrer Geburt.

Hannes Wie hast du dich vorhin am Telefon gemeldet?

Irmi Traub.

Hannes Ist das der Mädchenname deiner Mutter?

Irmi Ja. War’s das?

Hannes bleibt in ungläubigem Staunen stehen. Irmi ab. Ich bin ein Idiot!

Vorhang.

Pause.